Die Abfahrt aus Kathmandu war für 7 Uhr morgens angesetzt. Zwar kenne ich die überwiegende Einstellung der Nepalis zu fixen Terminen – sie nennen es „Nepali-Time“ – und rechnete bereits damit, dass die geplante Abfahrtszeit nicht eingehalten werden würde, dennoch war ich um 7 Uhr fertig und gespannt was mich erwarten würde. „Nepali-Time“ bedeutet in Nepal vieles. Zum einen, dass die Nepalis sich selten stressen lassen und schon gar nicht aus der Ruhe kommen. Zum anderen aber auch, dass Termine zwar vereinbart werden, jedoch vollkommen klar ist, dass keiner die angesetzte Uhrzeit einhalten wird.
Die Uhren schlagen anders in Nepal. Niemals zuvor habe ich geduldigere, bescheidenere und herzlichere Menschen getroffen als auf dem zauberhaften Dach der Welt. Mein Leben, mein Körper passt sich dem Rhythmus der Nepalis an, mein Herz schlägt anders, ich werde ruhiger, gelassener und habe Vertrauen in die Menschen und ihre Art und Weise das Leben zu meistern auch in Krisensituationen wie nach dem verheerenden Erdbeben im April 2015.
Somit warte ich geduldig zusammen mit unserem Freund und Partner Garret Samridha Pandey auf Arati und Padam, die uns nach Ikudol begleiten, um die Lage in dem abgelegenen Dorf nach dem Beben und dem monatelang andauernden Monsun zu bewerten.
Bis zu diesem Zeitpunkt ist ungewiss, ob wir es bis in das Dorf schaffen werden. Die Erde ist nach dem langen Regen weich und die einzige Straße, die uns an diesen Ort bringen kann, womöglich nicht befahrbar oder aufgrund von Baumaßnahmen nicht passierbar. Dennoch wagen wir das Abenteuer, wobei es vermutlich nur für mich ein tatsächliches Abenteuer ist. Padam und Arati erwarben vor einigen Jahren ein Farmhouse in Ikudol und sind somit unsere Brücke, unsere Stimme zu den Menschen dort.
Padam hat ein Auto und einen Fahrer organisiert, beschließt jedoch selbst zu fahren, da er die Straßen besser kenne und schließlich für unsere Sicherheit verantwortlich sei. Ich fühle mich wie immer in Nepal sicher und vertraue den Nepalis. Es sind ihre Straßen, ihre Berge und ihr Land. Sie strahlen eine Vertrauenswürdigkeit aus, die sich schwer in Worte fassen lässt. Selten in meinem Leben habe ich mich sicherer gefühlt, als wenn ich mit Nepalis unterwegs bin. Sei es zu Fuß, auf dem Motorrad, im Auto oder Bus. Ich bin gespannt auf das, habe aber keine Angst.
Um 8.30 Uhr fahren wir endlich los. Ikudol liegt im Distrikt Lalitpur (Patan) im Süden des Kathmandu Tals. Kathmandu ist bereits erwacht und die Fahrt durch die Stadt ist jeden Tag ein Erlebnis. Die Straßen sind voller Menschen, Fahrzeuge und gelegentlich steht eine Kuh auf der Kreuzung, die den Verkehr jedoch nicht stört. Es wird um sie herum gefahren, ohne zu hupen, ohne Stress und ohne das Tier aufzuregen. Auch wenn der Verkehr zum Erliegen kommt, bleiben alle ruhig. Keiner ärgert sich, schimpft oder schaut angespannt auf die Uhr. Sie lehnen sich zurück, beschäftigen sich mit ihrem Nachbar im Bus, tippen auf ihren Handys herum oder machen gar ein Nickerchen. Mit jeder Pore verbreiten sie Ruhe und Gelassenheit. Aufregung und Ärger bringt ihnen schlicht nichts und deshalb lassen sie es gar nicht erst aufkommen.
Wir fahren von Chabahil, in der Nähe der weltberühmten buddhistischen Stupa in Boudha im nordöstlichen Teil Kathmandus Richtung Patan in den Süden. Nachdem wir uns durch die Hauptverkehrstrassen der Stadt gekämpft haben, wird die Straße langsam enger, dennoch ist sie in beide Richtungen befahrbar. Wir schlengeln uns durch Wohngegenden und Siedlungen mit kleinen Läden und Restaurants, vor denen die Vorbereitungen für das Tagesgeschäft vollzogen werden. Wir sehen viele Schüler in Uniformen, die sich zu Fuß, auf Motorrädern und Mofas und überfüllten Bussen auf den Weg zur Schule begeben. Selbst in den vollgestopften Bussen wirken die Menschen entspannt und glücklich. Die Straßen werden schmäler, die Häuserdichte geringer, der Verkehr weniger. Mit jedem Kilometer, den wir hinter uns bringen, entfernen wir uns mehr und mehr vom urbanen Leben. Das spürt und sieht man. Die Blicke der Menschen werden neugieriger und aufmerksamer, jedoch niemals bedrohlich oder gar feindlich. Ich habe mir angewöhnt den Blicken nicht auszuweichen, sondern ihnen offen und herzlich zu begegnen, so wie die Nepalis mir begegnen. Ich bekomme warmes Lächeln zurück und fühle mich nie unwohl oder bedroht.
Aus einer asphaltieren Straße wird ein gut ausgebauter und befahrbarer Schotterweg, der uns nun in Serpentinen aus dem Kathmandu Tal herausführt. An diesem Punkt wird mir schnell bewusst, dass der Regen, der seit den frühen Morgenstunden fällt, tatsächlich ein Problem werden könnte. Auf diesen Straßen sind die Auswirkungen des Bebens und des Monsuns deutlich zu sehen und zu spüren. Monsun ist ohnehin eine gefährliche Zeit in Nepal. Der Boden weicht auf und es kommt häufig zu Erdrutschen, die die meist einzigen Verkehrsstraßen in vielen Gebieten verschütten und unpassierbar machen. Durch das schwere Beben ist die Erde noch lockerer als zuvor und birgt viele Gefahren. Der Abgrund neben den Straßen ist tief und nicht gesichert. Bei Gegenverkehr müssen die beiden Fahrzeuge sich arrangieren und geschickt aneinander vorbei fahren auf der engen Straße. Auch hier kommt den Nepalis ihr geduldiges Wesen zu Gute. Unsere Fahrt wird mehrfach unterbrochen durch entgegenkommende große Fahrzeuge oder Baumaßnahmen, die beendet werden müssen. Wir harren der Dinge, können die Fahrt jedoch jedes Mal weiter antreten. Die Straßen werden immer enger, weniger gut ausgebaut und gefährlicher. Padam ist hochkonzentriert.
Nach etwa zweistündiger Fahrt bergauf heraus aus dem Tal machen wir Pause in einem kleinen, lokalen Restaurant und essen Dal Bhat (Linsen mit Reis; Das Nationalgericht Nepals). Von diesem Punkt an geht es erstaunlicherweise wieder bergab. Der Fuß des Dorfes liegt in einer Art Tal hinter dem gewaltigen Kathmandu Tal. Nach ungefähr einer Stunde steiler Fahrt auf Straßen, die wir Europäer höchstwahrscheinlich als nicht befahrbar bezeichnen würden, halten wir an einem Fluss und parken das Fahrzeug. Die letzten Stunden hat auch bei mir Herzschlagen verursacht. Die Abgründe sind tief, die Straßen eng und spärlich ausgebaut, Gegenverkehr kann zu einer gefährlichen Situation führen und ohne Allradantrieb wären wir schon längst gestrandet.
Nun geht es zu Fuß weiter. Der einzige Zugang zu diesem kleinen Dorf ist eine Hängebrücke, die über den Fluss in das Zentrum Ikudols führt. Sie schwingt mit jeder Bewegung mit. Kinder kommen uns entgegen um uns zu grüßen und ein paar erwachsene Männer und Jungs, um uns beim Tragen der Mitgebrachten Güter zu helfen. Sie laufen mit einer vertrauten Selbstverständlichkeit über die Brücke und schwingen ganz natürlich im Rhythmus der Bewegung der Brücke mit. Mir fällt es nicht ganz so leicht das Gleichgewicht zu halten, bin aber durch die vielen Eindrücke so abgelenkt, dass ich einfach mitlaufe.
Der Kern des Dorfes besteht aus schätzungsweise 10 Häusern, einem Geschäft mit angrenzendem lokalem Restaurant. Schon jetzt ist erkennbar welch große Zerstörung das Erdbeben hinterlassen hat. Die Häuser haben tiefe Risse. Eingestürzt ist keines, jedoch sind sie zum Teil dennoch nicht bewohnbar.
Nun wird mir klar, dass die Bauernhäuser der Bauern dieses Dorfes über den gesamten Berg vor uns liegend versetzt in den Hang gebaut wurden. Ich kann erahnen, dass der anstehende Fußmarsch anstrengender werden wird als erwartet. Wir müssen eine weitere Brücke überqueren, um unseren Aufstieg zu beginnen. Die Menschen hier bringen diese Entfernungen fast täglich hinter sich, um nach unten ins Dorfzentrum, die Schule, die weit oben erbaut wurde, damit alle Kinder sie erreichen können, zu gelangen oder um hoch oben in den Bergen Wasser zu holen.
Padam und Arati möchten mir ihr Farmhouse, die Schule und andere Häuser zeigen, die zerstört wurden. Sie berichten mir, dass der Aufstieg ca. 15 Minuten dauern wird. Mir ist bewusst, dass diese Zeitangabe relativ ist und bei weitem nicht hinhauen wird. Wir überqueren einen kleinen Fluss, den die Nepalis vielmehr als Bach bezeichnen.
Der Aufstieg ist steil und aufgrund von lockerem Geröll anstrengend und wackelig. Ich spüre meine Beine und muss mich konzentrieren. Meine Begleiter passen sich meinem Tempo und Rhythmus an, gehen sicher, dass stets einer hinter mir und vor mir läuft, helfen mir über den Fluss und bewegen sich mit einer Leichtigkeit, die mich beeindruckt, obwohl sie zum Teil in Flipflops unterwegs sind. Der Regen hat aufgehört und die Sonne ist rausgekommen. Schon jetzt weiß ich, dass der Aufstieg alle Mühen wert sein wird.
Wir erreichen das Farmhouse und der unglaubliche Blick ins Tal lässt mich einige Sekunde erstarren. Die umliegenden Berge sind in Wolken gehüllt, zeigen sich jedoch in voller Pracht, da die Luft klar ist. Von hier erkenne ich die Weiten dieses Stück Nepals, die Abgelegenheit, die Unschuld, die Schönheit dieses Ortes. Es herrscht bedächtiges Schweigen. Die Nepalis spüren meine Ergriffenheit und wir genießen gemeinsam diesen Moment. Sie zeigen mir das Farmhouse, das aus zwei Räumen und dem Dachboden besteht. Es hat tiefe Risse, ist aber bewohnbar.
Stolz zeigen sie mir die provisorische Toilette, die sie für viele Haushalte erbaut haben. Eine Grube mit stabilen Brettern überbaut mit einem Loch in der Mitte, erbaut als eine Art Verschlag, um Privatsphäre zu geben. Ich wasche mir Hände und Gesicht und genieße die Ruhe an diesem Ort. Wir sitzen zusammen, Trinken Tee und sie berichten mir von zukünftigen Projekten, die wir gemeinsam angehen können. Sie sind stolz auf diesen Ort. Stolz darauf, dass ich hier bei ihnen bin und dankbar, dass wir gemeinsam die Situation der Menschen verbessern wollen. Diese mir eigentlich fremde Umgebung wirkt vertraut und sicher. Ich fühle mich als wäre ich am Ende der Welt angekommen und will nicht mehr weg.
Wir laufen weiter bergauf, treffen andere Bauern, sie zeigen uns ihre zerstörten Häuser, provisorische Unterkünfte, voller Stolz ihre Tiere, die trotz der dramatischen Situation wohl genährt sind und liebevoll als Teil der Familie behandelt werden. Wir treffen eine alte Frau, die erstaunlicherweise ihre Felder alleine bewirtschaftet, eine junge Frau, die mit zwei Kindern alleine hier oben lebt, da ihr Mann im Ausland seit Jahren als Arbeiter tätig ist , um die Familie zu unterstützen und Kinder, die wie Erwachsene schwere Last auf dem Rücken tragen. Das Leben hier ist hart. Die Menschen sind arm. Das Erdbeben hat das Leben noch beschwerlicher gemacht. Sie besitzen noch weniger als zuvor. Dennoch sind sie zuversichtlich, offen, positiv und über allem glücklich. Hier in Ikudol leben glückliche und dankbare Menschen. Ich bin beeindruckt, betroffen und schweigsam als wir uns weiterkämpfen durch Gestrüpp und Felder, um die zerstörte Schule zu besichtigen. Unicef hat Pavillons und Toiletten errichtet, damit der Unterricht für die ca. 50 Kinder weitergehen kann. Der Anblick macht mich traurig. Meine Gefühle werden schweigend wahrgenommen und ich werde voller Fürsorge aufgefangen.
Wir essen zusammen Suppe bevor wir den Abstieg ins Zentrum des Dorfes antreten. Der Weg hinunter ist ähnlich anstrengend, aber beeindruckender durch den offenen Blick ins Tal.
Im Dorf besprechen wir das für das nächste Wochenende geplante Health Camp mit 5 Ärzten. Wir tragen Sorge für die Besorgung der Medikamente, den Transport der Ärzte und deren Verpflegung. Das Camp wird im Zentrum stattfinden, so dass es jeder erreichen kann. Die Bewohner des Dorfes werden im Laufe der Woche informiert und es melden sich freiwillige, die beim Auf- und Abbau und dem Ablauf helfen werden. Wir verabschieden uns herzlich und versichern, dass wir am folgenden Samstag zurückkehren werden.
Inzwischen dämmert es, so dass der überwiegende Teil der Rückfahrt im Dunkeln stattfindet. Padam ist hochkonzentriert und die Fahrt für ihn sichtlich anstrengend. In der Nacht wirken die Straßen zum Teil bedrohlicher als am Tage, zum Teil vergesse ich aber durch die Dunkelheit auch wie steil die Abgründe sind und wie abgelegen diese Gegend ist. Im Auto ist viel Nachdenklichkeit, aber auch Erschöpfung von einem langen Tag zu spüren. Ich selbst bin müde, aber zeitgleich rast mein Kopf von den vielen Eindrücken, die mich nicht mehr loslassen. Wir erreichen Kathmandu sicher und unversehrt. Die Verabschiedung von Padam und Arati ist herzlich mit viel Vorfreude auf das kommende Projekt.
Wir essen eine Kleinigkeit in einem lokalen Restaurant und laufen durch die dunklen und inzwischen leeren Straßen Kathmandus. Der Gang nach Hause durch die Stille und Dunkelheit der Nacht lässt meine Gedanken zur Ruhe kommen und ich schlafe innerhalb von wenigen Sekunden zuhause bei Garret ein.
Wir hatten einen aufregenden Tag voller Spannung, Freude, Lachen, neuer Eindrücke, Betroffenheit, Trauer, an dem neue Freundschaften und enge Verbundenheit entstanden ist, um gemeinsam das Leben dieser Menschen ein kleines bisschen zu erleichtern.
geschrieben von Jenna
(mehr von ihr: hier)
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